Willst du fliegen?

Klaus Kordon

Bilder von Hendrik Jonas

Die Wartehalle des Inland-

flughafens ist groß, viel zu

groß für die wenigen

Passagiere. Osman denkt

das jedes Mal, wenn er die

Halle fegt. Und er fegt sie

nicht nur einmal am Tag. Er

fegt sie drei Mal: morgens,

mittags und abends. Er fängt

links vom Ausgang 1

an, kehrt den Schmutz mit

dem Reisigbesen von der

Wand weg und dann in

breiter Front vor sich her.

Wenn er Ausgang 7, die

letzte der sieben großen

Glastüren, geschafft hat,

kommen die ersten

Passagiere. Sie lassen sich

auf den Sitzbänken nieder,

schauen auf ihre Uhren,

kramen in ihren Taschen

oder lesen Zeitungen. Auf den

Besenstiel gestützt, schaut

Osman ihnen dann zu.

                    Auch heute.

Die Männer tragen Anzüge
und rauchen teure
Zigaretten, die Frauen
stecken in schönen Kleidern
oder engen Kostümen und
sind geschminkt. In dem
Viertel, in dem Osman
wohnt, läuft niemand so
herum. Der Lautsprecher
schallt, der Flug nach
Ankara wird aufgerufen. Die
Passagiere stehen auf und
drängen auf Ausgang 2 zu.
Neue Passagiere kommen.
Osman stellt den Besen
beiseite, nimmt seinen

Eimer und geht zwischen

den Sitzbänken hindurch.

Er sammelt auf, was die

Passagiere des ersten

Fluges liegengelassen

haben: Zeitungsreste,

Papierschnipsel, alles

Mögliche.

Auch die neuen Passagiere

verlassen die Halle. Es

kommen wieder andere.

Danach ist eine längere

Pause, Osman hat Zeit zu

fegen. Vor dem Ausgang 7

bleibt er stehen und schaut

auf das Flugfeld hinaus. Die

internationalen Flüge

starten und landen

ununterbrochen. Über den

Lautsprecher, der auch in

der Inlandsflughalle zu

hören ist, werden die

Namen der Städte

angegeben, die von den

Flugzeugen angeflogen

werden: Rom, New York,

Athen, Paris.

Ein Jumbo-Jet rollt zur

Startbahn. Osmans Augen

 

 

 

 

 

 

beginnen zu glänzen.

Gleich wird der schläfrige

Riese erwachen, wird immer

schneller werden, vom

Boden abheben, fliegen.

Und danach wird er

dann bald nur noch ein

silberner Punkt sein.

Es ist Abend. Die Lichter

der letzten Inlandsmaschine

sind verglüht. Osman

wendet sich ab und sucht die

Papierfetzen zusammen.

Die vielen Menschen, die sich

in der Halle aufhielten, haben

sie verändert. Osman denkt:

Sie riecht fremd. Aber

das denkt er jeden Abend;

morgen früh, wenn er

wieder hier ist und die

Halle zum ersten Mal

fegt, wird sie sein wie jeden

Morgen. Das heißt: morgen

vielleicht nicht wie jeden

Morgen, morgen hat er

Namenstag. Und ein

Namenstag ist ein beson-

derer Tag, vielleicht ist

dann etwas anders.

 

Osman steht vor dem Flug-

hafengebäude und wartet

auf den Vater. Der Vater

fährt eines von Herrn

Übecüs Taxis, er bringt

Osman morgens her und

holt ihn abends wieder ab.

Es ist schon spät und wird
immer später, aber der Vater
ist nicht zu sehen. Osman wird

nicht unruhig. Wenn der Vater

einen Fahrgast irgendwo

hinbringt, kann er die Fahrt

nicht unterbrechen, nur um

ihn abzuholen.


Als der Vater dann endlich

kommt, entschuldigt er sich:

„Ich hatte eine Panne.“

 

Osman setzt sich auf den

Beifahrersitz und schweigt.

Über eine Stunde hat er

warten müssen, aber der

Vater ist nicht schuld daran.

Herrn Übecüs Taxis sind alt.

Manchmal bastelt der

Vater den halben Tag am Motor

herum. Dann verdient er

nichts und muss trotzdem

Herrn Übecü die Pachtgebühr

bezahlen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Ein eigenes Taxi“, sagt der

Vater, als sie die Autostraße entlangfahren, und schaut

verträumt vor sich hin, das

wäre mein größter Wunsch.

 

Ein eigenes Taxi oder eine

Arbeit in Deutschland. Osman

kennt Vaters Wünsche.

Sie sind beide unerfüllbar.

Die Deutschen lassen keine

Ausländer mehr rein, seit

sie wieder mehr Arbeitslose

haben, und der Traum vom

eigenen Taxi wird immer

ein Traum bleiben. Der

Vater sagt es selber.

 

Und was wünschst du dir?

Der Vater lächelt. Er weiß,

Osman ist kein Träumer.

Osman sieht immer nur die

Wirklichkeit. Trotzdem fragt er.

 

Osman hat keinen Wunsch.

Oder besser: Er hat Tausen-

de von Wünschen. Aber das

ist das gleiche. Ein Auslandsflug

ist gestartet. Die Maschine

mit ihren vielen blinkenden

Lichtern steigt über der

Autostraße in die Nacht

hinein.

„Fliegen?“

Natürlich möchte Osman fliegen.

Wie oft träumt er, wenn er einer

Maschine nachblickt, er wäre

der Flugkapitän, säße im

Cockpit, gäbe englische

Kommandos, und sein Kopilot

sagte: „Yes, Sir!“ Aber das ist

ein Traum, den er nie zugeben

würde. Deshalb nickt er nur

zögernd.

 

„Also hast du doch einen

Wunsch!“ Der Vater lacht,

dass sich sein dichter,

dunkler Schnurrbart in die

Breite zieht.

Ein Wunsch ist es eigentlich

nicht, es ist nur ein Traum;

ein Traum, der nicht wagt,

ein Wunsch zu werden.

„Vielleicht wirst du doch einmal

fliegen“, sagt der Vater da

plötzlich und lächelt geheimnisvoll. „Vielleicht sogar sehr bald.“

 

Osman sitzt vor dem Haus, stützt

den Kopf in die Hände und überlegt. Wie hat der Vater das gemeint, das mit dem “Vielleicht wirst du doch einmal fliegen, vielleicht sogar sehr bald?"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hat das etwas mit seinem

Namenstag zu tun, oder hatte

der Vater nur einen Scherz

machen wollen?

Yülü kommt.

Yülü ist Sa-

dans Tochter

und wohnt im

Nachbarhaus.

Sie ist drei-

zehn Jahre alt,

genauso alt wie

Osman. Aber es ist

ein Unterschied, ob

ein Junge oder ein Mädchen

dreizehn ist. Yülü ist fast schon

eine Frau.

 

Als sie noch kleiner waren,

spielten Yülü und Osman

oft miteinander. Manchmal 

spielten sie den ganzen Tag

zusammen, trennten sich

nur, wenn ihre Mütter sie

riefen. Das ist nun vorbei,

Osman arbeitet, und Yülü

muss der Mutter helfen. Nur

selten und fast nur abends

darf sie für kurze Zeit aus

dem Haus. Yülü hockt sich

zu Osman und gibt ihm von

den Nüssen, die sie in der

Hand hält. Osman kaut und

schaut Yülü an.

 

Yülü ist schön. Sie hat

große schwarze Augen und

einen vollen Mund. Der

Mann, der sie einmal

bekommt, kann sich freuen.

Die beiden sagen kein Wort,

sitzen nur da und kauen

Nüsse und schauen in die

Dunkelheit. Dann ruft Yülüs

Mutter. Yülü lächelt, gibt

Osman den Rest Nüsse und

geht ins Haus zurück.

Osman bleibt noch sitzen.

Er isst die restlichen Nüsse

und denkt wieder an den

Vater: Wie hat er das nur

gemeint, das mit dem Fliegen?

 

Als die Mutter Osman weckt

und ihn an sich zieht und

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

beglückwünscht, ist er sofort

hellwach: Er hat Namenstag,

sein wichtigster Tag im Jahr

ist heute. Das ist ein Grund

zur Freude. Aber er weiß
auch, dass der Vater jeden
Moment kommen wird, um
ihn zum Flughafen zu bringen. Deshalb steht er gleich auf.

„Du bist schon wach?“ Der

Vater steht im Flur und
beglückwünscht Osman. Dann lächelt er: „Wir müssen los. Dein Geschenk erhältst du heute Abend.“

Der Tag in der Flughafen-

halle verläuft wie alle Tage, nichts ist anders, nur weil Osman heute Namenstag hat. Allein 

Yafar beglückwünscht ihn und bringt ihm eine Limonade.

 

An diesem Abend ist der Vater

pünktlich; als Osman aus

der Halle tritt, steht er schon da.

 

Osman kann seine Neugierde

kaum noch zügeln. Er muss

immer wieder an Vaters Worte

vom Fliegen denken. Schenkt

der Vater ihm etwa ein Flugticket für einen Rundflug? Aber das kann er sich nicht vorstellen. Wo sollte der Vater so viel 

Geld hernehmen? Der Vater

ahnt, was in Osman vorgeht,

und grinst geheimnisvoll. Aber

er sagt nichts. Dann sind die

beiden zu Hause

angelangt. Der Vater

stellt den Motor

ab und sagt:

„Geh mal

auf denHof,

ich komm

gleich nach.“

 

Osman geht

auf den Hof -

und bleibt stehen. Auf dem

engen, mit Müllkästen und

allerlei Gegenständen voll-

gestellten Hof steht ein

Flugzeug! Aus Kistenbret-

tern und Pappe, aus Draht

und Stoff. Und mit einem

alten Autolenkrad als

Steuerknüppel. Und um das

Gebilde herum sitzen die

Geschwister und die Mutter

und strahlen ihn an.

 

Osman schießen die Tränen

in die Augen: Wie hatte er

an einen Rundflug denken

können! Der Vater kommt,

sieht Osmans Gesicht und ist

enttäuscht. „Steig doch mal

ein“, bittet er. Steif klettert

Osman in die Maschine.

„Brumm! Brumm!“ machen

die Geschwister. Sie lassen

den Motor laufen.

Osman sieht Yülü im

Küchenfenster des Nachbar-

hauses und schämt sich. Er

                     ist dreizehn Jahre

                         alt und sitzt in

                         einem Kinderspiel-

                         zeug. Rasch steigt

                                     er aus und 

                                     läuft davon.

Beim Abendessen entschul-

digt sich der Vater bei

Osman. „Ich habe vergessen,

dass du schon ein großer

Junge bist. Für mich bist du

immer noch ein Kind, und

da wir dir nichts anderes

schenken konnten“,...

Die Geschwister verstehen

nicht, weshalb Osman sich

über das Geschenk nicht

freut. Sie sitzen da und

sehen den großen Bruder an.

                 Osman möchte dem

                   Vater was Gutes

                     sagen, aber ihm

                      fällt nichts ein und

                      lügen möchte er

                      nicht. So schweigt

                                       er, bis die

                                       Mutter    

ihn an sich zieht. „Du bist ein

guter Junge“, sagt sie.

„Ein wirklich guter Junge.“

 

Es ist Nacht. Osman liegt in

seinem Bett und kann nicht

schlafen. Das also war sein

Namenstag gewesen! Er hatte

sich so darauf gefreut, und

nun ist er enttäuscht, nichts als enttäuscht. Osman wälzt sich hin und her. Er wird immer munterer, bis er glaubt, überhaupt nicht mehr einschlafen zu können.

Schließlich steht er auf und

geht in den Hof.

Da steht es, sein Flugzeug!

Wie ein Tier aus einer der

Sagen, die der Vater den

Geschwistern manchmal

erzählt, hockt es auf dem 

dunklen Hof. Leise geht

Osman näher und fährt mit

der Hand über die Trag-

flächen aus Stoff. Der Vater

hatte den ganzen Tag dafür

geopfert, ihm die Maschine

zu bauen.

 

Osman geht näher an das

Flugzeug heran

und hebt das Bein,

um einzu-

steigen. Dann

lässt er es

wieder

sinken.

Auf dem

Sitz kauert jemand, jemand,

der sich nur mit Mühe das

Lachen verkneift. Yülü.

„Was machst du denn hier?“,

entfährt es Osman. Die

Überraschung ist so groß,

dass er vergisst, leise zu

sprechen. „Psst!“ Yülü legt

einen Finger vor den Mund.

„Ich wollte auch mal fliegen“,

flüstert sie. Osman blickt misstrauisch. Erlaubt Yülü sich einen Spaß mit Ihm? Aber nein, sie ist ganz ernst. „Das ist ein schönes

Geschenk“, sagt sie.

 

Osman steht vor dem Flug-

zeug und zögert. Was soll

er tun? Einfach wieder

zurück gehen? „Steig ein

und mach dich klein“,

sagt Yülü.

„Und sei leise. Wenn meine

Mutter uns hört.“

Osman versteht: Ein Mädchen

muss um diese Zeit im

Haus sein! Er steigt ein und

setzt sich neben Yülü.

Danach aber weiß er nicht,

was er tun soll. „Flieg los!“

drängt Yülü.

 

Osman schaut Yülü an. Ihre

Augen glänzen im Mondlicht.

Sie ist noch längst nicht so

erwachsen, wie sie aussieht.

Sie will spielen. Und er will

es ja auch. Er holt tief Luft,

schaut zu den im Nacht-

himmel glitzern-

den Sternen

empor und sagt

leise: „Fasten

your seat belts,

please!“ Yülü starrt

Osman an. „Was

heißt das?“

Das ist Englisch

und heißt: „Bitte

anschnallen!“

„Und wie

schnallt man

sich an?“

Osman zeigt

es Yülü. Und

 dann schnallt

 er sich selber

 an und startet

 die Maschine.

  Die Motoren

  heulen auf,

die Maschine hol-

 pert über das

 Flugfeld und

 stürzt, immer

 schneller wer-

 dend davon, bis

 die Tragflächen

   zu rütteln be-

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 ginnen und sie sich langsam in die Lüfte erhebt. „Wo sind

wir?“, fragt Yülü nach eini-

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ger Zeit. „Über dem Meer“,

antwortet Osman. „Und wo

fliegen wir hin?“

„Nach New York.“

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